Fasching war’s

Der XTRA!-Kulturspaziergang

Heuer zwar recht kurz, aber ausreichend lange für Bälle und ähnliche Ablenkungen von der Realität unter dem Motto „Glücklich ist, wer vergisst…“ zeigte sich der Fasching 2024. Musikalisch gab es durchaus passende Werke, am Sprechtheater hingegen war’s wohl eher ein Kehraus, der da geboten wurde.

 

Volksoper

Es ist die richtige Entscheidung, wenn die Wiener Volksoper Leonard Bernsteins West Side Story wieder (einmal) als Neuproduktion zeigt, ist doch stets ein neues Publikum bereit, sich auf die Begegnung mit dem bereits zum Standard-Repertoire jeder Musical- und Operettenbühne gehörenden Werk einzulassen und seine Erwartungen – dank Film und Platte – bestätigt zu sehen. Musical – ja! Operette – nein? Falsch: Bernsteins Musik öffnet sich beiden Genres, denn wo es romantisch wird („Maria“, „Tonight“), ist beste Operetten-Tradition angesagt. Wo aber der Rhythmus Oberhand gewinnt („America“, die Mambo-Sequenz sowie alle weiteren Tanzszenen der Partitur), zeigt sich das Musical von seiner besten Seite – selbst wenn es derzeit keinen Nachfolger von Jerome Robbins gibt, dessen Choreographie seit der Uraufführung am 26. September 1957 im Wintergarden Theatre, New York, zum integralen Bestandsteil dieser „Story“ wurde und spätestens mit der Verfilmung von 1961 einen fixen Platz innerhalb der größten Tanzfilme Hollywoods einnimmt. Ja, auch Opernstars wie Kiri de Kanawa und José Carreras konnten sich und die Welt von der Qualität der Musik überzeugen, aber die Quintessenz des Werkes zeigt sich doch in der Hingabe an den Tanz. Egal, ob in dem mit acht Oscars ausgezeichneten Film George Chakiris als Bernardo den Boden stampfte oder Rita Moreno als Anita die Röcke schwang – wer da im Kino saß und nicht versuchte, mit schnippenden Fingern oder wippenden Beinen mitzumachen, war sowieso verloren für diese Welt!

Die Volksoper hat das zusätzliche Glück, durch ihrem einstigen Dramaturgen Marcel Prawy eng mit dem Werk verbunden zu sein, schuf er doch die nach wie vor gültige deutsche Übersetzung der Dialoge. Sie wird auch für diese Neuproduktion, die vierte nach der deutschsprachigen Erstaufführung am 28. Februar 1968 (mit Julia Migenes und Adolf Dallapozza) und die Folge-Inszenierungen von 1982 (als Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen) sowie 2001 verwendet. Die seither gültige Praxis, die Songs in der Originalsprache (aber mit deutschen Übertiteln) zu bringen, wird allein schon  bei „Officer Krupke“ – einem der Höhepunkte – bestätigt. Ihre Schattenseiten zeigt sie in der kaum inspirierenden Ausstattung: weder das düstere Bühnenbild (Christof Hetzer) noch die Kostüme (Jorine van Beek)  haben Anteil am enormen Erfolg dieser „West Side Story“. In der Regie der Hausherrin Lotte de Beer sorgt dafür neben der ansprechenden Choreographie von Brian Aryas eher die Besetzung, in der von mir besuchten Aufführung vor allem Julia Khalil (Maria) und Roberta Moncao (Anita). Anton Zetterholm als Tony bleibt leider etwas blass (stimmlich und als Figur), hat aber trotzdem um einiges mehr Bühnenpräsenz als Bernardo, sein Gegenspieler bei den Sharks (ob da ein besser geschnittener Anzug aushelfen könnte, wage ich aber bei Lionel von Lawrence zu bezweifeln). Das Orchester (diesmal unter Leitung von Tobias Wögerer) brachte die prächtigen Effekte der Musik zu voller Wirkung – und bestätigte somit, dass es auch bei dieser Inszenierung, 56 Jahre nach der ersten Begegnung in Wien, Leonard Bernsteins geniale Partitur ist, die das Publikum begeistert.

Staatsoper

Waren es in der Volksoper (vorzugsweise) die mit Puerto Rico assoziierten Rhythmen, so punktete das Haus am Ring im Februar – seinem Status gemäß –  mit klassischer Ballettmusik als ausreichendem Grund für einen Besuch, etwa von Giselle (und zu Adolphe Adams musikalischem Meisterwerk) oder von Don Quixote (zur leider oft etwas unterschätzten Musik von Ludwig Minkus, dem österreichischen Komponisten, der als Léon Minkus am Zarenhof von St. Petersburg zu höchsten Ehren aufstieg). Beide Choreographien basieren auf Einflüssen von Marius Petipa, und die Inszenierungen nehmen dazu – jede auf ihre Art – auch Bezug. Die Herkunft aus Marius Petipas Petersburger Residenz lässt sich selbst nach hundert Jahren nicht verleugnen.

Die von Wiens Kurzzeit-Ballettchefin Elena Tschernischova (1991 bis 1993) erarbeitete „Giselle“-Fassung lässt durch das wie mit dem Grisaille-Stift gezeichnete Bühnenbild von Ingolf Bruun bereits düstere Vorahnungen auf den klassisch-weißen zweiten Akt zu, doch die fröhlich-bunten Kostüme von Clarisse Praun-Maylunas konterkarieren das erfolgreich bis zu dem Moment, wo Giselle mit der Realität konfrontiert wird und sieht, dass Albrecht eben mehr ist als ein um ihre Gunst werbender junger Mann, nämlich hochadelig und mit Bathilde, der Tochter des Herzogs von Kurland, verlobt. Da das 1841 in Paris uraufgeführte Werk einer, wenn nicht der Höhepunkt des romantischen Balletts ist, muss dieser tristen Erkenntnis der Wahnsinn folgen – und Giselle, das schlichte Bauernmädchen, wird als Tote von Myrtha, der Königin der Wilis, in ihren Hofstaat gezwungen. Zwischen Mitternacht und ein Uhr früh erwachen die Untoten und suchen die für ihr Sterben verantwortlichen Männer – Hilarion, Giselles eifersüchtigen Gefährten, und Albrecht, der seinen falschen Treueschwur nun an Giselles Grab, mit Lilien in den Armen, bitter bereut.

Im ersten Akt erfreut das Corps mit ländlichem Gruppentanz, in den sich – als „Bauern-Pas deux“ bekannt – ein Paar einbringt (Lourenco Ferreira imponiert mit seinen perfekten Tours en l’air) und durch Giselle und Albrecht zum Pas de quatre erweitert wird. Im zweiten Akt regiert das gesamte Corps unter Myrthas Herrschaft und begeistert mit perfekt gezogenen Linien, an denen entlang sich Hilarion in den Tod tanzt – Albrecht aber wird durch Giselles Geist davor bewahrt. Ein grandioser Grand Pas de deux zeigt alle Möglichkeiten des klassischen Balletts, und als perfekt besetztes großes Paar realisieren Liudmila Konovalova und Masayu Kimoto sämtliche von ihnen bzw. ihren Rollen abverlangten Erwartungen mit Aplomb und wunderbar fließendem Port de bras – ein großer Ballettabend (von Wolfgang Heinz musikalisch einfühlend geleitet) endet in Begeisterung.

Mit „Don Quixote“ hinterließ Rudolf Nurejew dem Wiener Ballett einen Markstein seines künstlerischen Erbes. Nurejew, der zwischen 1964 und 1988 gemeinsam mit der Wiener Truppe in 167 Vorstellungen 22 Rollen (fast alle in eigener Choreographie) getanzt hatte, schuf auch für „Don Quixote“ seine eigene Version, die zwar auf der Tradition aufbaute, aber viel Neues – vor allem in Bezug auf den Ballerino – mit sich brachte. Ohne Nurejew gäbe es kaum einen der heutigen großen Tänzer, denn sie alle profitieren von der Aufwertung der Rolle des Mannes im klassischen Ballett, galt doch bisher George Balamchines Spruch „Ballet is Woman“. No, ist es nicht, nicht mehr – dank Nurejew!

 „Don Quixote“ hat – vom Titelhelden, Miguel de Cervantes weltberühmter Romanfigur abgesehen – vor allem durch die zahlreichen Tänze Bezug zu Spanien (ein  Erbe von Marius Petipa, der dort solistisch tätig war und die spanische Musik durch spezielle Choreographien würdigte). Einer dieser Höhepunkte zeigt sich am Auftritt der acht Stierkämpfer, wenn sie mit ihren effektvoll geschwungenen Capes alle Augen auf sie lenken. Da sie sich dann auf eine Rauferei mit einigen herumlungernden Kerlen einlassen, bietet weitere Freuden auf der Augenweide. Im Zentrum der Handlung steht das Paar Basil und Kitri, deren Vater andere Pläne für sie hätte, aber im Finale resignierend die segnenden Hände über beide hält. Bis es aber so weit ist, haben die zwei jungen Leute einige (tänzerische) Auflagen zu erfüllen, Ioanna Avraams Kitri etwa mit dem großen Solo und einem schwungvoll geöffneten Fächer im ersten Akt; im Finale begeistert sie dann mit zahllosen Fouettés – und als Traumerscheinung Dulcinea kann sie ihr ganzes klassisches Können vorführen. Basil muss so manche Manège (verziert mit Drehungen und Sprüngen) ziehen, bis er schließlich – mit oder ohne Gitarre – zum Zug kommt. Dem „ingenioso hidalgo Don Quixote“ (Zsolt Török) und seinem Diener Sancho Pansa (Gaspare Li Mandri) bleibt da nur der Rückzug in die Statisterie entlang der Bühne (Ausstattung von Nicholas Georgiadis). Dort hält Spanien Siesta und dies bei Klängen aus dem Orchestergraben – Robert Reimer und seinen Musikern sei Dank dafür ausgesprochen!

Kammerspiele

Das Konzept von Herbert Föttinger ist ja, die Bühne an der Rotenturmstraße hochwertigem Boulevard zu überlassen. Yasmina Reza passt da durchaus ins Konzept – die in Wien bisher vorgestellten Werke zeigen qualitativ aber eine klare Abwärtsrichtung. Nach dem fulminant quer durch alle Welt gezeigten Reißer „Kunst“ (in Wien in einem denkwürdigen Gastspiel aus Berlin mit Udo Samel, Gerd Wameling und Peter Simonischek mehrmals gezeigt; und an den Kammerspielen mit Herbert Föttinger, André Pohl und Martin Zauner nachgespielt) folgte „Der Gott des Gemetzels“ (2008 im Burgtheater). Da gab es in Wien auch noch „Ein spanisches Stück“ sowie „Drei Mal Leben“ und „Bella Figura“, bis dann am Akademietheater die Dramatisierung von Rezas Roman „Serge“ andeutete, dass sich Reza nicht entscheiden wollte oder konnte, in welcher Form sie weiterhin als Erfolgsautorin wahrgenommen werden möchte – als alle Grenzen ignorierende Satirikerin oder als dem Publikum und der Kritik gefällige Komödien-Autorin. Mit der österreichischen Erstaufführung von James Brown trug Lockenwickler am 15. Februar 2024 gab sie dazu zwar keine endgültige Antwort, bestätigte aber den zuvor schon angekündigten Abwärtstrend. Bei der deutschen Erstaufführung in München hatte sich die Kritik zumindest teilweise recht angetan gezeigt von dem Werk und seinem Versuch, alles nicht dem Üblichen Entsprechende einfach hinzunehmen, ohne zu viel zu hinterfragen. In Wien war die Antwort nun klarer, zumindest, was die Regie betrifft: Sandra Cerviks Versuch wurde gemäß den meisten in den Wiener Zeitungen erschienenen Rezensionen als Desaster gesehen. Julian Valerio Rehrl verkommt als Jacob Hutner, der sich seit seiner Kindheit als Céline Dion sieht, zum blassen Statisten in wallender Seide, der nur noch Lionel genannt werden will. Seine Eltern spricht er mit ihren Vornamen an, wenn sie den aus Sicherheitsgründen in einer „Anstalt“ untergebrachten Sohn besuchen: Maria Köstlinger und Juergen Maurer versuchen in diametraler Weise, mit dieser Situation umzugehen – der Vater erntet mit seinem durchaus verständlichen Tobsuchtsanfall den größten Applaus des Abends. Dominic Loley zeigt als Jacobs Freund Philippe, worum es Reza vielleicht geht, sieht er sich doch – trotz weißer Hautfarbe – als Schwarzer und macht sich Sorgen um das Weltklima. Die schrillste Figur in diesem Quintett ist Alexandra Krismer als Psychiaterin: mit ständigem Perücken-Tausch und dem Aus- und Anziehen ihrer High Heels beschäftigt, würde sie als Patientin der „Anstalt“ gute Figur machen. Leider wird sie aber mit ihren irren Ansichten auf Gäste, also auf das Ehepaar Hutner (samt Sohn und Freund),  losgelassen – und das unter dem Motto „Bremsen heißt kapitulieren“. Sabine Freude lieferte dazu eine weiße Luxus-Gummizelle als Bühnenbild, zu dem Aleksandra Kicas Kostüme den  farblichem Kontrast bieten. Noch Fragen, etwa zu James Brown oder Céline Dion?

Robert Waloch